Die Sozialarbeit in den Schulen neu ausrichten

Veröffentlicht am 21.08.2020 in Fraktion
Hans-Michael Gritz
Hans-Michael Gritz, der Fraktionsvorsitzende im Gemeinderat

Im Sommerinterview mit der Kornwestheimer Zeitung spricht unser Fraktionsvorsitzender Hans-Michael Gritz über aktuelle politische Themen, wie der Schulentwicklungsplanung, dem Wandel der Mobilität und der Innenstadt

Herr Gritz, die SPD-Führung hat Olaf Scholz zum Kanzlerkandidaten ernannt. Braucht die SPD überhaupt einen Kanzlerkandidaten?

Ja, wenn man den Anspruch hat, zu den Volksparteien zu gehören. Und den Anspruch hat die SPD. Und sie hat den Anspruch, bei der Bundestagswahl vor den Grünen zu landen. Für den Fall, dass es so kommt und über Koalitionen verhandelt wird, müssen wir sagen, wer unsere Führungsperson ist.

Sind sie mit der Nominierung von Olaf Scholz zufrieden?

Im Prinzip ja. Jedes Amt, das er bisher übernommen hat, sei es Regierender Bürgermeister im Hamburg, Bundesarbeits- oder Bundesfinanzminister, hat er gut ausgefüllt. Ich traue ihm die Kanzlerschaft zu. Es stimmt: Wir haben eine Zeit, in der es maßgeblich auf die Selbstdarstellung ankommt. Da mag er im Nachteil gegenüber anderen Kandidaten sein. Auf der anderen Seite brauchen wir in der Phase, in der wir uns gerade befinden, keine Selbstdarsteller, sondern jemanden, der eine solide Arbeit macht.

Sie haben in Kornwestheim mit Florian Wanitschek einen jungen Stellvertreter in Ihrer Seite. Was macht die junge Generation anders als die alten Hasen?

Zum einen kommuniziert sie auf eine andere Art und Weise. Zum anderen verkehrt Florian Wanitschek in ganz anderen Kreisen, hat viel mehr Kontakte zu jüngeren Menschen und bringt deren Gedanken und Wünsche in die Partei- und Fraktionsarbeit ein. Das ist ein großer Gewinn für uns. Zudem ist Florian Wanitschek ein ganz lernbegieriger und fleißiger Mensch, der auch zuvor ohne Amt viel mitgearbeitet hat.

Es gibt auch sonst viele junge Kräfte im Gemeinderat. Wie hat sich da die Arbeit verändert?

Die Flut an Anträgen, die es bei den Haushaltsberatungen gegeben hat, war sicherlich eine Folge davon. Jeder hat im Wahlkampf gesagt, wofür er sich einsetzen will, und versucht, das gleich umzusetzen. Aber es macht sich auch darin bemerkbar, dass Themen anders behandelt werden, dass manches kreativer angegangen wird.

Der Gemeinderat hat jüngst beschlossen, im Osten der Stadt zwei Schulen neu zu bauen und die Realschule zu erweitern. Insgesamt wird sich die Schullandschaft in Kornwestheim verändern, und das lässt sich die Stadt mehr als 60 Millionen Euro kosten. Angesichts der wegen der Corona-Pandemie unsicheren Lage: War das nicht ein sehr mutiger Beschluss, weiß man doch gar nicht, wie sich der städtische Haushalt entwickelt?

Er war auf jeden Fall mutig, aber natürlich ist es auf der anderen Seite notwendig, dass wir etwas tun. Die Realschule platzt aus allen Nähten, und eine neue Grundschule im Osten ist auch unstrittig . Die SPD hat sich für die etwas günstigere Lösung ausgesprochen, weil wir lieber in Menschen als in Gebäude investieren wollten. Die Corona-Krise verdeutlicht es: Wir haben ein soziales Problem, und das wird nicht kleiner, sondern größer. Wir brauchen eine Neuausrichtung der Sozialarbeit, die sich bewegt zwischen der klassischen Schulsozialarbeit, wie wir sie kennen, und der Unterstützung der Schüler Umgang mit den digitalen Medien. Es gibt Jugendliche, die können zwar alles Mögliche mit ihrem Handy anstellen, aber sie können die digitalen Medien nicht fürs lernen, fürs Arbeiten nutzen. Es gibt immer mehr Schüler, die einfach abgehängt sind.

Abgehängt sein – was heißt das?

Das heißt, dass die Schüler sich nicht am Digitalunterricht beteiligt haben und teilweise regelrecht in Vergessenheit geraten sind. Es gibt bei uns in der Schule einige Jugendliche, die freiwillig die Klasse wiederholen, weil sie nicht das Gefühl haben, das nächste Schuljahr bestehen zu können. Ich habe erlebt, dass Schüler wirklich die persönliche Ansprache benötigt haben, um weiter zu kommen.

Wenn Sie neue Stellen in der Sozialarbeit schaffen wollen, dann treibt das ja die Kosten noch weiter in die Höhe.

Deshalb hätte ich lieber weniger in die Gebäude investiert. Vielleicht können wir durch Umschichtung etwas erreichen.

Wie kann die Stadt die Ausfälle auf der Einnahmenseite kompensieren?

Zu Beginn der Corona-Pandemie war ich mir sicher, dass wir erneut einen Prozess der strategischen Steuerung benötigen, dass wir Punkt für Punkt durchgehen müssen, wo wird den Rotstift ansetzen. Aber ich kann verstehen, dass die Verwaltung diese Mammutaufgabe zunächst einmal nicht angegangen ist. Wir können jetzt Einstellungsstopps vornehmen, wir können bei den freiwilligen Aufgaben sparen. Wir müssen uns bewusst sein: nach den letzten Sparmaßnahmen ist vieles schon heruntergefahren. Die Corona-Pandemie ist nicht vorbei. Den Haushalt danach ins Lot zu bringen, das wird unheimlich schwierig.

Das hört sich ein wenig ratlos an.

Ratlosigkeit hieße, dass man vor einer Situation steht und nicht weiter weiß. Aber wir wissen ja nicht einmal, wie die Situation sein wird. Uns fehlen ganz einfach noch die Fakten.

Sie haben in Ihrer Haushaltsrede im vergangenen Jahr eine Beitragsfreiheit für die Kindertagesstätten gefordert. Ist dieser Wunsch angesichts der Pandemie nun unerfüllbar geworden?

Nein, das ist für mich weiterhin ein wichtiges Ziel, für dessen Erreichung aber in erster Linie das Land gefordert ist. Wir müssen die Familien unterstützen, denen wegen Kurzarbeit oder vielleicht sogar Arbeitslosigkeit das Geld fehlt. Wir dürfen das Thema Chancengerechtigkeit nicht aus dem Blickfeld verlieren.

Die öffentliche Hand hat ja sich mit Beginn der Corona-Krise sehr spendabel gezeigt. Zu spendabel?

Nein, im Großen und Ganzen nicht, weil die Reserven, die für Notzeiten angelegt worden sind, vorhanden waren. Der Unsicherheitsfaktor: wir wissen nicht, wie lange die Corona-Krise noch andauert.

Das Fahrradfahren erlebt derzeit einen Boom, und es werden andernorts Fahrradwege regelrecht aus dem Boden gestampft. In Kornwestheim tut sich meiner Beobachtung nach nichts.

Das beobachte ich auch. Wir haben im Nachtragshaushalt ja sogar die Sanierung der Hohenstaufenallee nach hinten verschoben. Aber wir müssen an einigen Stellen etwas fürs Fahrradfahren tun.

Wo sehen Sie den größten Handlungsbedarf?

Wie gesagt: der Radweg an den Schulen ist sicherlich dringend an der Reihe. Der Bereich Stuttgarter Straße/Ludwigsburger Straße ist schlecht geregelt. Das ist für die Radfahrer kaum ersichtlich, ob´s überhaupt einen Radweg gibt. Und das ist eine zentrale Stelle in der Stadt. Ich habe von einem jungen Paar gehört, dass das kurze Verbindungsstück zwischen Lindenstraße und Stotzgebiet, die Kurve am Kindergarten, sehr gefährlich sei, weil der Radweg dort für Begegnungsverkehr viel zu schmal ist.

Was halten Sie von den Popup-Radwegen, wie sie beispielsweise von der Stadt Stuttgart beispielsweise in der Theodor-Heuss-Straße angelegt worden sind?

Wenn sie dazu dienen, die Radwege länger zu etablieren und die Radfahrer durch das Zentrum zu leiten, dann erfüllen sie sicherlich ihren Zweck.

Der Fahrrad-Boom: Ist das nur ein Trend oder ein Wandel in der Mobilität?

Ich wünsche mir, dass das ein Wandel ist und die Verkehrsteilnehmer, die jetzt aufs Rad steigen merken, dass sie eigentlich schneller vorankommen. Derweil hoffe ich, dass der zu beobachtende Wechsel vom Öffentlichen Personennahverkehr ins Auto nur ein Trend ist, der der Corona-Pandemie geschuldet ist. Was wir weniger denn je aus den Augen verlieren dürfen ist das Thema Klimawandel. Es muss mehr Maßnahmen geben, um die Kohlendioxid-Ausstöße zu verringern. Und diese Maßnahmen müssen schnell kommen.

Autofahrern wird´s im Gegenzug nicht leicht gemacht. So wird in Kornwestheim beispielsweiße Tempo 40 eingeführt. Muss man in einer Region, die vom Automobil lebt, das Autofahren nicht viel mehr fördern?

Das Thema Tempo 40 ist dem Lärmschutz geschuldet. Die Lärmwerte in Kornwestheim sind einfach zu hoch. Ich frage mich auch fast jeden Tag, warum wir eigentlich nichts gegen diejenigen Auto- oder Motorradfahrer tun, deren Fahrzeuge einen Höllenlarm verursachen. Da besteht meines Erachtens noch großer Handlungsbedarf.

Da müsste Ihnen doch eigentlich die Tunnellösung für den Nordostring gefallen, weil man den Verkehr unter die Erde bringen will.

Ich halte aus diversen Gründen nicht viel von diesem Vorschlag. Zum einen ist diese Lösung mit 1,4 Milliarden Euro viel zu teuer. Aber entscheidender ist, dass wir vom Individualverkehr wegkommen müssen und nicht Raum für zusätzlichen Verkehr schaffen dürfen. Für Kornwestheim müssen wir bedenken, dass bei uns der Tunnel endet und die Autos wieder ans Tageslicht kommen. Das ist mit einem großen Bauwerk verbunden. Nächster Punkt: Bei der Information im Gemeinderat hieß es, dass die Abgase aus dem Tunnel gefiltert und herausgeleitet werden. Aber irgendwo müssen die ja bleiben. Ich habe die Sorge, dass genau das in Kornwestheim sein wird. Was mich erstaunt ist, dass der Widerstand in Ludwigsburg nicht viel größer ist. Dort fließt der Verkehr mitten durch die Stadt. Und der wird mit einem Nordostring auf keinen Fall weniger.

Wenn wir beim Verkehr bleiben, aber zu Bussen und Bahnen wechseln: Was ist zu tun, damit die Schusterbahn auch künftig in Kornwestheim hält?

Ich bin dafür, zunächst einmal den Verkehr auf der bestehenden Linie auszuweiten um zu sehen, wie die Linie abgenommen wird. Sie hat sicherlich ihren Reiz, weil´s eine Umfahrung von Stuttgart ist und der Hauptbahnhof entlastet wird.

Hat die Stadt in der Region keine Lobby, dass Ideen entwickelt werden, Kornwestheim bei einer Verlängerung abzuhängen?

Wir werden Anfang September mit der SPD-Fraktion der Regionalversammlung ein Gespräch führen und noch einmal deutlich machen, dass die Schusterbahn in Kornwestheim halten muss – und zwar am Personenbahnhof. Ein Halt bei W&W kann dafür kein Ersatz sein. Ich habe den Eindruck, dass man viel zu spät damit begonnen hat, sich mit der Zukunft der Schusterbahn zu beschäftigen und dass es nun schnell gehen soll.

Sie haben beim Neujahrsempfang Ihrer Partei für die Innenstadt einen Prozess angeregt, bei dem Bürger und Fachleute ins Gespräch kommen sollen. ‚Wir gestalten unsere Stadt‘ soll der Titel sein. Was genau stellen Sie sich vor?

Die Innenstädte, nicht nur in Kornwestheim übrigens, haben massive Probleme – und die werden nicht damit gelöst, dass man mit dem Auto bis vor die Geschäfte fahren kann. Ich will, dass die Innenstadt eine Aufenthaltsqualität hat und dass sie von den Menschen angenommen wird. Deshalb müssen wir es schaffen, dass sich möglichst viele Menschen an diesem Veränderungsprozess beteiligen. Wegen Corona haben wir mit diesem Prozess bisher nicht beginnen können. Ich halte ihn aber für dringend erforderlich, weil die Freude, in die Innenstadt zu gehen immer weiter abnimmt. Ich bin mittlerweile so weit, dass ich auf dem Nachhauseweg von Bietigheim mit dem Fahrrad über die Karlshöhe fahre, damit ich nicht durch die Bahnhof- und Güterbahnhofstraße muss. Ich finde es nahezu unerträglich. Was ich sehr hoffe, ist, dass die kürzlich beschlossenen Maßnahmen in absehbarer Zeit eine Verbesserung bringen werden, aber dadurch wird das Gesamtproblem noch nicht gelöst.

Sie nehmen einen zusätzlichen Hügel in Kauf, um die Innenstadt meiden zu können? Was regt Sie so sehr auf?

Ich rege mich auf, weil ich fast immer in der Güterbahnhofstraße falsch geparkte Autos sehe, in schwierige Situationen komme und manchmal sogar absteigen muss.

Der Fotohändler Jens Bartmann hat jüngst bei einer Veranstaltung der Stadt gesagt, dass man sich grundsätzlich mit der Frage auseinander setzen muss, ob man überhaupt eine Innenstadt haben will angesichts der Tatsache, dass die Kunden auf der grüne einkaufen oder im Netz. Haben die Innenstädte sich überholt?

Eine Innenstadt ist ein Treffpunkt, und den benötigt man, um zusammenzukommen. Wir benötigen ein Zentrum für unsere eigene Identität. Eine Stadt mit über 30 000 Einwohnern, die braucht doch eine Innenstadt. Anders kann ich es mir nicht vorstellen.

In Berlin ist jüngst eine Tafel für die Salamander-Zwangsarbeiter enthüllt worden. Und dabei ist erneut Kritik laut geworden, dass in Kornwestheim noch eine Diskussion aussteht, ob einige öffentliche Einrichtungen – speziell das Gymnasium und die Stadionhalle – die Namen tragen dürfen, die sie tragen. Ist das etwas versäumt worden in der Stadt?

Ich bin nicht der Ansicht, dass wir die Namen ändern sollten. Was wir aber auf jeden Fall tun müssen ist es, über die Vergangenheit aufzuklären und aufzuzeigen, was seinerzeit war und wie es zu der Namensgebung gekommen ist. Ich habe als Lehrer immer versucht, beim Thema ‚Drittes Reich‘ lokale Bezüge herzustellen.

 

Fragen von Werner Waldner.

Quelle: Kornwestheimer Zeitung, 20.08.2020

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